Ein herausragendes Kennzeichen der Turksprachen ist ihr agglutinierender Sprachbau, dessen zentrales Prinzip darin besteht, Nachsilben an ein Wort anzuhängen.
Durch das Anhängen dieser Suffixe kann die Bedeutung erweitert oder verändert werden.
Das ist auch der Grund dafür, dass man im Türkischen komplexe Sachverhalte mit nur einem Wort ausdrücken kann, da viele Informationen in nur einem Ausdruck stecken.
Nehmen wir als Beispiel das türkische Wort okullarda:
Der erste Teil des Wortes (okul) bedeutet „Schule“ oder auch „die Schule“. Ganz genau kann man das im Türkischen nicht unterscheiden, denn es gibt keinen bestimmten Artikel.
Der Plural – die Mehrzahl – von Schule heißt auf Türkisch: okullar (und auf Deutsch natürlich: die Schulen).
Okullarda schließlich kann man mit „in den Schulen“ ins Deutsche übersetzen. (Karşıdakiler heißt beispielsweise „diejenigen, die sich gegenüberstehen“ oder yaptırmayacca ğiz bedeutet „wir werden nicht tun lassen“.)
Das Türkische besitzt eine einfache und sehr logische Grammatik, die von nahezu mathematischer Schönheit ist. (So kann beispielsweise bereits am Infinitivstamm eines Verbs erkannt werden, ob das Verb die Endung -mek oder -mak bekommt).
Insgesamt ist die türkischen Grammatik von nur wenigen Ausnahmefällen geprägt, was dem Türkisch Lernenden sehr zu Gute kommt. Außerdem gibt es kein grammatisches Geschlecht und keine Artikel (außer bir „ein“, „eine“).
Allerdings muss man sich als Türkischanfänger, zuerst einmal mit den Vokalharmonien auseinandersetzen und diese gut verinnerlichen. Im nächsten Abschnitt erklären wir Ihnen die wichtigste Grundlage der Türkisch-Grammatik, ohne die kein grammatisches Phänomen verstanden werden kann.
Unter einer „Vokalharmonie“ versteht man jede Angleichung von Vokalen an den Artikulationsort und die Artikulationsweise eines anderen Vokals.
Das heißt die Vokalharmonie steuert Abfolgen und eventuell Umwandlungen der Vokale in einzelnen Wörtern.
Diese Umwandlungen kommen dann vor, wenn alle Vokale eines Wortes zur selben Art von Vokalen gehören.
Im Türkischen unterscheidet man zwei Arten von Vokalen:
helle (vordere) und dunkle (hintere oder ungerundete) Vokale.
Zu den dunklen Vokalen zählt man: a, ı, o und u.
Sie entstehen im hinteren Bereich des Mundraums.
Zu den hellen Vokalen zählt man: e, i, ö, und ü.
Sie werden vorne im Mundraum gebildet.
Mit Hilfe der folgenden Tabelle können Sie durch lautes Aussprechen der Beispielwörter die Unterschiede zwischen hellen und dunklen Vokalen vergleichen.
oda (das Zimmer), odalar (die Zimmer) | gece (die Nacht), geceler (die Nächte) |
hanım (die Dame, die Frau), hanımlar (die Damen, die Frauen) | güneş (die Sonne), güneşler (die Sonnen) |
hatıra (das Souvenir), hatıralar (die Souvenirs) | deniz (das Meer), denizler (die Meere) |
Bestimmt ist Ihnen bei der Aussprache der Wörter etwas aufgefallen!
Richtig, für das türkische Sprachempfinden hört es sich einfach besser an, wenn nur helle oder nur dunkle Vokale in einem Wort vorkommen. Und genau dafür sorgt die kleine Vokalharmonie!
So zum Beispiel auch bei der Pluralbildung der Wörter, die im Türkischen je nach vorangegangenem hellen oder dunklen Vokal mit (den Morphemen) -lar oder -ler gebildet werden.
Der Vokal des Suffixes lautet entsprechend dem letzten Vokal des Wortes, an den das Suffix tritt:
a – ı – o – u → a
e – i – ö – ü → e
Die kleine Vokalharmonie tritt nicht nur bei der Pluralbildung im Türkischen auf, sondern auch bei den Suffixen des Lokativs (-de/-da), des Ablativs (-den/-dan), sowie bei den Kasusendungen des Dativs (-e/-a).
Schauen Sie sich dazu die folgende Tabelle an.
Plural | ev oda | evler odalar | Häuser Zimmer |
Dativ | ev oda | eve odaya* | nach Hause in das Zimmer |
Lokativ | ev oda | evde odada | im Haus im Zimmer |
Ablativ | ev oda | evden odadan | aus dem Haus aus dem Zimmer |
*In diesem Fall hat sich zwischen dem Wort und seinem Suffix der Füllkonsonant y eingeschlichen. Dafür gibt es eine einfache Erklärung:
Beim Anhängen von Suffixen an ein Wort vermeidet das Türkische das Aufeinanderstoßen von zwei Vokalen. Endet zum Beispiel das Wort auf einen Vokal, so werden als Füllkonsonanten n, s, ş oder y zwischen Suffix und Wort eingefügt.
Wie Sie bereits gesehen haben, unterliegen einige grammatische Phänomene im Türkischen der kleinen Vokalharmonie.
Andere wiederum unterliegen der großen Vokalharmonie. Diese tritt bei den Suffixen der Kasusendung im Genitiv und Akkusativ, bei allen Personal- und Possessivendungen, sowie bei den Ordnungszahlen und dem Fragepartikel -mi auf.
In der folgenden Tabelle finden Sie Beispiele für das Schema der großen Vokalharmonie anhand der Personalendung für die erste Person Singular -im:
Der letzte Vokal eines Wortes ist | Der letzte Vokal eines Wortes ist | ||||
e oder i | Sekrterim | Ich bin Sekretärin. | a oder ı | Avukatım | Ich bin Rechtsanwalt. |
İngilizim | Ich bin Engländer. | Fransızım | Ich bin Franzose. | ||
ö oder ü | Şöförüm | Ich bin Chauffeur. | o oder u | Doktorum | Ich bin Arzt. |
Türküm | Ich bin Türke. | Rusum | Ich bin Russe. |
Wie Sie sehen, können diese Suffixe in vierfacher Form vorkommen:
in unseren Beispielen finden Sie die Suffixe im, ım, um, üm.
Deswegen spricht man bei der großen Vokalharmonie ebenfalls von der vierförmigen Suffixvokalharmonie im Vergleich zur zweiförmigen Suffixvokalharmonie bei der kleinen Vokalharmonie (beispielsweise -lar und -ler bei der Pluralbildung).
Als Faustregel für die große Vokalharmonie können wir nun Folgendes zusammenfassen:
e und i → i
ö und ü → ü
a und ı → ı
o und u → u
Nach dem selben Prinzip funktioniert auch die Vokalangleichung für die Bildung des Akkusativs und des Genitivs, sowie alle Possessivendungen. Die folgende Tabelle zeigt Ihnen exemplarisch die Bildung der Ordnungszahlen, die ebenfalls der großen Vokalharmonie unterliegt:
Kardinalzahl | Ordnungszahl |
eins: bir | erster: birinci |
drei: üç | dritter: üçüncü |
sechs: altı | sechster: altıncı |
neun: dokuz | neunter: dokuzuncu |
Autor des Artikels: Arnold Tiberiu Tolnai